Heute habe ich zur Abwechslung eine kurze Geschichte für euch:
Die gute Kollegin
Sybille arbeitet in einem grossen medizinischen Labor in der Innenstadt. Sie ist diejenige, die dein Hausarzt anruft, wenn er eine grössere Blutanalyse braucht oder deine Leberwerte überprüfen lässt. Für gewöhnlich geht sie morgens zeitig zur Arbeit und hat dann am späten Nachmittag frei.
Wenn man Sybille auf der Strasse zufällig trifft, sieht man ihr nicht an, welchen Beruf sie ausübt. Sie trägt meist einfache Röcke und Hosen, wie sie jede andere Frau im Büro tragen würde, manchmal ist ihre Bluse leuchtend bunt oder wild gemustert, aber auch das ist ja nichts Ungewöhnliches. Ihr heller Mantel steht ihr gut und der Friseur hat die ersten grauen Haare bereits erfolgreich übertönt. Auf dem Weg zur Arbeit nimmt Sybille erst den Bus und steigt am Bahnhof um in die Strassenbahn. Sie sieht aus wie jeder andere Pendler auch und meist schenken ihr die Leute genauso wenig Beachtung wie dir oder mir.
Der Arbeitstag im Labor ist normalerweise wenig hektisch. Vieles erledigt sie am Computer. Sie trägt einen weissen Kittel, der ihr mindestens so gut steht wie ihr heller Mantel. Mit den vielen technischen Geräten kennt sie sich aus. Genau wie ihre Kollegen wertet sie Blut- und Urinproben aus, analysiert DNS, findet heraus, welches Gift in deinem Körper sein Unwesen treibt oder welche Allergien du hast. Auch wenn Sybille nur wie ein kleines Rädchen erscheint, ist ihre Arbeit ungemein wichtig.
In so einem Labor gelten besondere Sicherheitsbestimmungen. Es muss natürlich hygienisch sauber sein. Auch müssen die Mitarbeiter sich schützen, denn immerhin haben sie es auch mit Krankheitserregern zu tun. Sybille trägt oft zwei Paar Handschuhe übereinander, falls das erste einmal kaputt geht. Sie hat eine Haube aus weisser Gaze auf, wenn sie mit den vielen Fläschchen und Ampullen hantiert und einen Mundschutz, damit sie nichts Schädliches einatmet. Oft braucht sie eine Schutzbrille, damit ihr keine Chemikalien in die Augen spritzen.
Sybille ist gut ausgebildet und versteht sich mit allen bestens. Sybille ist eine gute Kollegin und freundlich, gerne hilft sie aus oder springt ein. Bei vielen hat sie deshalb einen Stein im Brett. Jemanden wie Sybille braucht man in jedem Büro.
In den Mittagspausen sitzt sie oft zusammen mit den Kollegen in der kleinen Kantine oder sie gehen in der Innenstadt einen Happen essen. Man lädt sich gegenseitig zu Geburtstagspartys und Hochzeiten ein. Einige Kollegen sind zusammen mit Sybille im Kegelverein. Man trifft sich immer donnerstags. Mit ihrer Büronachbarin Greta geht Sybille gern ins Kino.
„Sybille hat es gut. Zwei Wochen Ski-Ferien! Hast du dieses Jahr eigentlich keinen Urlaub gebucht?“ fragt Karl Heinz und tunkt ein Stück Schnitzel ins Ketchup. Greta betrachtet ihren welken Salat. „Ach weißt du, ich hab es nicht so mit dem Wegfahren. Ich bleibe lieber daheim.“ Karl Heinz schluckt einen Mund voller Schnitzel herunter und antwortet gleichzeitig, was merkwürdig gedämpft klingt. „Ist bestimmt schwer mit deiner Mutter und so.“ Greta nickt und sagt: „Ich möchte lieber nicht über meine Mutter reden.“ Sie piekst eine halbe Cocktailtomate auf und versucht einen Themenwechsel. „Du hast Ketchup auf der Wange, bekleckere nicht dein Hemd.“
Karl Heinz greift nach der Serviette und wischt sich übers Kinn. Gregor lacht. „Ich habe wieder Tunesien gebucht. Aber ich muss noch bis Neujahr warten.“ Er schaufelt ein paar Nudeln auf die Gabel. Er isst in der Kantine immer Nudeln. Greta hat ihn nie etwas anderes bestellen sehen. Sie kaut auf ihrer Tomate herum. Wässerig.
Karl Heinz hat mit dem Salzstreuer kräftig nachgewürzt. „Du weißt doch, was zu viel Salz mit deinen Blutwerten anrichtet!“ stellt Greta fest und grinst. „Oder willst du etwa vorzeitig in Rente gehen?“ Karl Heinz zwinkert. „Ich hab ja selbst ein Auge drauf. Ich arbeite kräftig an der Frührente und dann geht das Leben erst richtig los.“ Er schiebt sich noch mehr Schnitzel in den Mund. „Schmeckt dein Salat nicht?“ fragt er wieder mit vollem Mund. Greta rümpft die Nase, aber eher über seine Tischmanieren als über den Salat. Ihr fehlt Sybille. „Das ist nicht so toll.“ Murmelt sie, denn eine Ermahnung hilft ja doch nicht. Gregor ist mit seinen Nudeln fertig. „Ich hole mir gleich noch einen Nachtisch. Soll ich dir was anderes mitbringen?“
„Ach lass man, ich hab eh keine Zeit mehr.“ Seufzt Greta und steht auf. „Die Zentrifuge müsste jetzt fertig sein und ich will das bis heute Abend noch schaffen. Danach wartet noch viel mehr Arbeit auf mich.“ Sie nimmt ihr Tablett auf. Karl Heinz nickt und schluckt. „Zwei Kolleginnen im Urlaub und drei feiern krank, und an wem bleibt es hängen? Nicht mal Zeit zum Essen hat man.“ Er ist manchmal ein wenig muffig, der Karl Heinz, aber er meint es nicht so. Greta lächelt ihn an. „Es wird ja wieder besser. Die können ja nicht ewig fortbleiben. Guten Appetit noch!“ Sie trägt ihr Tablett zur Abräumstation und verschwindet auf klackernden Absätzen. Gregor schaut ihren langen Beinen nach. „Was ist denn mit Gretas Mutter?“ fragt er. Karl Heinz hat mehr Augen für sein Schnitzel. „Die ist dement.“ Sagt er und steckt sich noch ein Stück in den Mund. „Greta pflegt sie.“ Er kaut. Gregor trinkt einen Schluck und unterdrückt ein Aufstossen. „Aber Greta arbeitet doch.“ Sagt er nachdenklich. Karl Heinz zuckt mit den Schultern. „Sie hat eine Tagesschwester, die sich kümmert. Nach der Arbeit und am Wochenende pflegt Greta sie selbst. Das kostet weniger.“
Greta verzieht das Gesicht. Freitagabend. Sie ist müde. Draussen ist es schon seit Stunden dunkel. Schneeflocken treiben am Fenster vorbei. Am liebsten würde sie nach Hause gehen, ein Bad nehmen und sich dann ins Bett kuscheln. Ihre Schwester hat sich anerboten, die Mutter heute Abend zu betreuen, weil Greta Überstunden machen muss. Es ist zu viel Arbeit liegen geblieben, weil die Grippe das halbe Büro nach Hause geschickt hat.
Im Radio verklingen die letzten Takte eines Popsongs. Greta blickt auf, als ein Jingle die Nachrichten ankündigt. Dann verliest der Moderator die Neuigkeiten vom Tage. In den letzten zwei Stunden hat Greta dieselben Nachrichten bereits viermal gehört. Sie hört nur mit einem halben Ohr hin. „Verkehr. Auf der A1 in Höhe Rasthof Eichenfelde hat sich nach einem schweren Unfall mit einem LKW ein 8 km langer Stau gebildet. Die Polizei hat den mittleren und rechten Fahrstreifen gesperrt. Wir bitten Sie, die Stelle weiträumig zu umfahren. Auf der A32 an der Ausfahrt Bad Wallsingen kommt es wegen einer Baustelle weiterhin zu stockendem Verkehr. Und nun zum Wetter: In der Nacht kommt es weiterhin zu heftigen Schneefällen. Der Wind lässt nach, aber vereinzelt kann es noch zu kräftigen Böen kommen. Die Aussichten für Morgen...“ Greta schaltet ab. So kann sie sich nicht konzentrieren.
Sie reckt sich und steht auf. Drüben im Labor müsste sie noch einen Durchlauf mit den letzten Proben für heute machen. Fast fertig. Sie seufzt, stösst die Tür auf, schaltet noch mehr Lichter an und nimmt sich ein paar frische Einmalhandschuhe. Es riecht nach medizinischem Alkohol und den Reinigungsmitteln, mit denen die Putzfrauen die Böden aufnehmen.
Greta macht sich wieder an die Arbeit. Ihr Rücken tut weh und ihre Schultern sind unter dem Laborkittel angespannt. Sie ist eindeutig überarbeitet. Das Neonlicht lässt ihre Augen brennen. Sybille hat sich zwei Wochen Urlaub genommen. Ski fahren und Wellness, mit Wanderungen durch das verschneite Gebirge. Sie hat ihr Fotos auf das Handy geschickt, es sieht traumhaft aus. Greta vermisst Sybille. Gern wäre sie mitgefahren, so wie die Kollegin es ihr vorgeschlagen hat. Aber sie kann ihre Mutter nicht zwei Wochen allein lassen. Die Schwester ist mit ihren Kindern und dem Haus genug gefordert und kann sich nicht kümmern. Und die Mutter würde Greta vermissen. Trotz Demenz.
Sie zwingt sich dazu, sich auf die Probe zu konzentrieren und etikettiert ein paar Glasröhrchen. Es ist schon nach Zehn. Sybille wird nächste Woche schon wieder zurück sein, dann wird Greta weniger Arbeit haben. Heute Abend wollten sie nach Hause fahren. Am Montag wird sie ihr vom Urlaub erzählen und von ihrem Freund, der sie immer noch nicht heiraten will. Sie wird Greta das Versprechen abnehmen wollen, nächstes Mal doch mitzukommen. Nur für ein paar Tage. Greta seufzt, streicht sich mit dem Handrücken müde die Haare aus den Augen und wirft einen Blick auf den Arbeitsplan an der Wand neben der Tür. Sie sind die nächste Woche die meiste Zeit zusammen im Labor. Ein Glück! Dann gibt es wieder viel zu Lachen. Wie sie Sybille vermisst hat!
An ihrem Schreibtisch tippt sie die Ergebnisse der Analysen in den Computer ein und füllt Formulare aus. Die Kaffeetasse ist schon wieder leer. Neben ihr rattert der Drucker. Gleich ist es geschafft. Das Schneetreiben draussen hat sich beruhigt. Der Schnee fällt nun langsam und gleichmässig, dicht wie eine Decke. Greta gähnt. Sie muss dann nur noch ein paar Emails verschicken. Wenn es doch nur ein wenig schneller gehen würde. Bald ist sie fertig. Das Computerprogramm rechnet und rechnet. Der Mauszeiger hat sich in eine Sanduhr verwandelt und dreht sich. Ihre Augen fühlen sich an, als hätte sie Bleilider. Sie stützt den Kopf in die Hand und wartet. Es scheint mal wieder ewig zu dauern.
„GRETA!“
Mit einem Ruck ist sie wach. Ihr Herz klopft wie wild. Was war das? Wer ruft da? Ihr Mund ist staubtrocken. Ist sie eingeschlafen? Sie steht auf und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Das darf doch nicht wahr sein! Sie ist am Schreibtisch eingeschlafen. Wie peinlich! Wer hat sie geweckt?
„Greta!“
ruft es aus dem Nebenzimmer. Sie geht zur Tür und steckt den Kopf hindurch. Das klingt doch nach Sybille? Im Nebenraum ist es dunkel. Greta sieht einen Umriss im Türrahmen zum Labor. Ihr Herz setzt einen Schlag aus. Sybille! „Herrje, hast du mich erschreckt!“ sagt sie und tastet mit der Hand an der Wand entlang. „Was machst du denn hier, bist du schon zurück?“
„Du hast mir in deiner SMS gesagt, dass du heute Überstunden machen musst.“
Gretas tastende Finger finden den Lichtschalter nicht. „Wieso stehst du hier im Dunkeln, Sybille?“ Ihre Augen starren in die Dunkelheit vor ihr. Irren herum. Sybille bewegt sich nicht. Sie scheint nur ein Schatten zu sein, schwärzer als die Dunkelheit um sie herum. Greta hat auf einmal Angst. An der Wand hängen die Laborkittel säuberlich an Haken aufgereiht wie Gehängte. Ihr Herz klopft immer noch wild. Dann strafft sie sich. Atmet tief ein. Sowas lächerliches. „Du bist nur wegen mir hier?“ fragt sie und macht einen Schritt in den Raum hinein, obwohl ihr eine Gänsehaut über den Rücken läuft. Sie kann Sybilles Parfüm riechen, sie steht neben ihr.
„Du hast vergessen, den Bunsenbrenner auszumachen. Beeil dich, Greta!“
„Was?“ Endlich finden ihre Hände den Lichtschalter, sie drückt beide Knöpfe. Die Deckenlampen flammen auf. Greta sieht sich mit tränenden Augen um. Sybille ist nicht da. Der Bunsenbrenner? Greta schnuppert. Es riecht nach Qualm!
Sie hastet durch den Raum und stösst die Tür zu ihrem Labor auf. Der Tisch an der hinteren Wand steht schon in hellen Flammen. Greta kann Sybille im Flur rufen hören.
„Der Feuerlöscher! Schnell, Greta!“
Sie besinnt sich. Macht auf dem Absatz kehrt. In jedem Labor ist ein Feuerlöscher gleich neben der Tür. Greta reisst die rote Flasche hektisch aus ihrer Halterung. Sie ist schwer und fällt ihr auf den Fuss. Ruhe bewahren! Sybille ruft bestimmt schon die Feuerwehr! Gretas Hände zittern. Sie entsichert den Feuerlöscher. Müht sich mit der Plombe. Dann schafft sie es. Der Löschschaum sprüht zischend und spuckend aus dem Schlauch. Erst traut Greta sich nicht näher heran. Dann reisst sie sich zusammen und tritt näher. Die Flammen ersticken.
Der halbe Raum ist mit weissem Schaum bedeckt. Der Boden ist glatt und rutschig. Greta stellt den Feuerlöscher ab. Sie will Atem schöpfen, aber die Luft ist voller Qualm. Sie geht in den Flur. Ihre Hände zittern. Wo ist Sybille? Und warum ist der Feueralarm nicht losgegangen? Sie macht noch ein paar Schritte, rutscht aus und plumpst auf den harten Fussboden. Unter ihren Schuhsohlen klebt Schaum. Erschöpft lehnt sie sich an die Wand. Da merkt sie, dass sie am ganzen Körper zittert wie Espenlaub. Sie muss jemanden anrufen. Das Notfalltelefon an der Wand. Sie steht wieder auf und taumelt langsam darauf zu. Nimmt den Hörer ab. Das Freizeichen. Sie drückt eine Kurzwahltaste.
„Hallo?“ tönt eine Stimme an ihr Ohr. „Hier ist Greta. Labor 3. Es hat gebrannt.“ Stösst sie hervor und wischt sich den Schweiss aus dem Gesicht. „Ich brauche Hilfe, es hat hier gebrannt!“ ruft sie in den Hörer hinein und unterdrückt ein Schluchzen.
„Wir kommen schon!“ erwidert die Stimme am Telefon. Greta kann jetzt auch Schritte hören. Am Ende des Flures geht eine Tür auf. Der Hausmeister steht da und betrachtet sie verdutzt. „Was ist denn los?“ fragt er und läuft auf sie zu. Greta zeigt auf die Tür zu ihrem Labor. „Es brennt!“
Die Feuerwehr ist angerückt. Man hat sich den Schaden angesehen. Greta musste viele Fragen beantworten. Sie sitzt unten in der Kantine auf einem Stuhl. Einige andere Mitarbeiter sind auch dort. Alle reden durcheinander. Keiner hat etwas bemerkt. Man ist aufgeregt und nervös. Der Chef wurde aus dem Bett geklingelt und steht nun hemdsärmelig und ohne Krawatte neben der Kaffeemaschine. Sein Gesicht ist aschfahl. „Wo ist eigentlich Sybille hin?“ fragt Greta den Hausmeister. Der sieht sich fragend um. „Sie sind doch aber allein auf der Etage gewesen.“ Meint er nur.
Der Feuerwehrmann, der den Einsatz leitet, kommt zu ihnen. Greta hat vergessen, wie er heisst. „Das ganze System ist ausgefallen. Kein einziger Brandmelder hier im Gebäude funktioniert. Bei den ganzen Chemikalien!“ Er schnauft und sieht Greta vorwurfsvoll an. „Sie haben das Feuer gerade noch rechtzeitig gelöscht. Das hätte eine Katastrophe gegeben!“ Greta beisst sich auf die Lippen. Sie ist eingeschlafen. Sie hat den Bunsenbrenner vergessen auszumachen.
Ihr Chef klopft ihr auf die Schulter. „Das haben Sie gut gemacht, Greta.“ Sie atmet tief durch. Wappnet sich. „Ich hab das Feuer nicht bemerkt. Ich... ich bin am Schreibtisch eingeschlafen.“ Ihre Stimme überschlägt sich. „Das war meine Schuld! Ich war so müde, ich hätte nach Hause gehen sollen. Aber ich brauche die Überstunden und das Geld!“ Ihre Stimme versagt. Ihr Chef drückt ihre Schulter. „Es ist ja noch einmal gut gegangen.“ Murmelt er und sie sieht sein graues Gesicht. „Wenn Sybille nicht rechtzeitig da gewesen wäre...“ weint Greta und wischt sich die Wangen mit ihrem Ärmel ab. „Ich hab einen grossen Fehler gemacht.“
Der Feuerwehrmann kniet vor ihr und sieht sie ernst an. „Jeder macht mal Fehler. Mit einem intakten Brandschutzsystem wäre es gar nicht so weit gekommen. Sie haben rechtzeitig reagiert und einen grösseren Schaden verhindert. Es ist nichts passiert. Und Sie haben grosses Glück gehabt.“ Er blickt zu ihrem Chef auf und der nickt. Greta atmet tief ein und aus. „Sybille hat mir rechtzeitig Bescheid gesagt.“ Sagt sie und blickt ihren Chef ebenfalls an.
Der lacht. „Greta, Sybille ist nicht da.“ Greta putzt sich die Nase. „Sie war im Labor und kam zu mir ins Büro. Sie hat mich gerufen und mir gesagt, dass ich den Feuerlöscher holen soll.“
Der Chef sieht sich um. „Es sind aber alle hier!“ Greta steht auf und sieht sich nach Sybilles dunklem Haarschopf um. Sie kann sie nicht entdecken. „Sie war doch aber da!“ meint sie und ihr Blick irrt durch den Raum. „Ist sie einfach so nach Hause gegangen? Haben Sie wirklich das ganze Gebäude abgesucht?“ fragt sie den Feuerwehrmann. Der blickt sie an, als sei diese Frage unter seiner Würde.
„Wir rufen sie einfach mal an.“ schlägt ihr Chef vor. „Setzen Sie sich ruhig wieder hin. Ihre Freundin ist sicher nur zum Klo.“ brummt der Feuerwehrmann und stapft zu einem seiner Kollegen hinüber. Der Chef ist an einen Tisch getreten und fragt herum. Greta beobachtet ihn mit müden Augen und bemerkt, dass sie friert. Sie wirft einen Blick in den Flur. Alles ist hell erleuchtet. Das Neonlicht ist fast schon ein bisschen zu grell. Müde schleppt sie sich zu ihrem Stuhl und lässt sich langsam darauf sinken. Nach dem Sturz tun ihr die Knochen weh. Es ist einfach zu viel.
Ihr Chef kommt zu ihr herüber. Sie hat noch nie so viel mit ihm gesprochen, nicht einmal beim Bewerbungsgespräch. Das hat der Personalleiter geführt. „Ich habe die Handynummer, ich rufe die Sybille gleich mal an.“ Seine Finger gleiten über das Display. Er räuspert sich und nickt Greta noch einmal zu. „Ich bin gleich wieder da.“ Sie sieht ihm nach, während er in den Flur geht, um in Ruhe zu telefonieren. Ihr fallen fast die Augen zu. Mit einmal ist sie wieder schrecklich müde. Tief durchatmend setzt sie sich gerade hin.
Es dauert eine ganze Weile, bis ihr Chef zurückkehrt. Er muss lange telefoniert haben. Greta hatte grosse Mühe, sich wach zu halten. Jemand hat ihr einen Kaffee gebracht. Alle sind völlig aufgelöst. Sybille ist immer noch nicht aufgetaucht. Im Raum wird es still, als der Chef wieder hereinkommt. Er geht zu Greta hin und setzt sich neben sie.
„Können Sie mir noch einmal erzählen, was passiert ist?“ Greta sieht ihn müde an. „Das hab ich doch schon.“ Sie wiederholt ihre Geschichte. Dass sie lange gearbeitet hat. Eingeschlafen ist. Lässt nichts aus. Nachdem sie geendet hat, blickt ihr Chef sie direkt an. „Greta, das kann nicht sein.“ meint er mit leiser Stimme und nimmt ihre Hand. „Sie müssen das bestimmt geträumt haben.“ Greta leckt sich mit der Zunge über die Lippen. Sie schluckt. „Warum glauben Sie mir denn nicht. Ich habe doch alles zugegeben.“ Flüstert sie.
„Greta, das ist jetzt wirklich schwierig. Aber ich muss Ihnen was sagen. Ich habe gerade auf Sybilles Telefon angerufen. Da ist ein Mann rangegangen, jemand von der Polizei. Anscheinend hat es gestern Abend kurz vor Zehn einen Unfall auf der Autobahn gegeben. Ein Lastwagen hat einen anderen überholt und dabei einen PKW übersehen. Es tut mir wirklich leid, Greta, aber Sybille und ihr Freund waren in diesem Auto. Die Beiden waren sofort tot.“
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Müsi 1941 (Samstag, 12 Dezember 2015 20:03)
Super-Geschichte, einfach toll dein flüssiger Schreibstil. Ich freue mich auf weitere spannende Geschichten von dir.